Die Meerjungfrau vom Süderriff
-Eine Erzählung von der Insel Langeoog-
Prolog:
Weit entfernt vom Inselort, draußen am Ostende, dort wo man das Süderriff sieht und am Horizont schon deutlich die ersten Sandbänke von Spiekeroog erblicken kann, gibt es ein lauschiges einsames windstilles Plätzchen. Nur wenige Menschen fanden offensichtlich jemals dorthin und vielleicht wird auch künftig kaum einer dieses kleine Versteck am Meer finden. Und ich saß nun, seitdem ich auf der Insel war, jeden Tag hier und blickte auf das Meer ...
--------------------
Wenn ich heute, Jahre später, an diese Stelle zurückdenke, dann war es tatsächlich so, dass ich sie nur durch Zufall gefunden hatte. Denn in den ersten Tagen auf der Insel fuhr ich frühmorgens nur deswegen mit dem Fahrrad den Weg über den Langeooger Schniederdamm und dann in Richtung ‚Alte Meierei’ bis hin zum entlegenen Ostende der Insel, um die grandiose Natur links und rechts des Weges ausgiebig zu bewundern. Während der Radelei bekam ich schnell eine Ahnung von der großartigen Weite der Landschaft, ständig konnte ich weit hinaus bis zum Horizont blicken und zwar so weit, bis zum Schluss alles zu verschmelzen schien. Die unendlichen Wiesen- und Wattlandschaften vereinigten sich mit dem riesengroßen blauen Himmel und den grauweißen Wolkengebilden und ich lief ständig Gefahr, mit den eigenen Blicken förmlich in der dunstigen Unendlichkeit zu ertrinken. Dazu kam, dass damals im Mai überall in der Luft, auf dem Wasser oder im hohen Gras alle möglichen Wasser- und Wattvögel die riesige Szenerie beherrschten. Ständig sangen, riefen und schnatterten Brand-, Ringel- und Graugänse um die Wette und aus den sich so wunderbar sanft hin- und herwiegenden Gräserwellen ragten immer wieder lange Vogelhälse hervor, um die Lage genauestens zu sondieren. Ja, -es galt ja auch äußerst behutsam vorzugehen, um vielleicht das dichte Gräserwerk mit den kleinen aufgeregt piependen Gänseküken mal wieder zu verlassen, denn schließlich musste die große Familie irgendwie mit immer neuer Nahrung versorgt werden.
Lange hatte ich jedes Mal von weitem diesem Treiben der Vogelwelt begeistert zugesehen, oft war ich stehen geblieben und konnte absolut kein Ende finden. Und zum Schluss war ich dann, völlig erfüllt von den vielen Eindrücken, irgendwo
gelandet. Aber eben nicht irgendwo, sondern ich ließ mich, zunächst zufällig, aber später beabsichtigt, an diesem seltsamen einsamen Ort, von dem ich gleich erzählen werde, einfach im weißen weichen Sand nieder. So entdeckte ich auf diese Art und Weise einen herrlichen Platz, ein kleines Plätzchen nur, um ganz alleine auf das Meer zu schauen und die Stille tief und bewusst einzuatmen, um Ruhe zu finden und um die Zeit um mich herum an diesem menschenleeren Fleck völlig zu vergessen.
So saß ich auch an diesem besonderen Tag dort, es war der letzte während meines Aufenthaltes. Das brütende
Austernfischerpaar in der Nähe hatte sich längst an mich gewöhnt und am Strand liefen eilig einige Möwen auf und ab, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich sah auf die Wellen, auf das Wasser und den Strand und war dem Meer mit jedem Tag ein Stückchen mehr innig verbunden. Aber ganz plötzlich stellte ich überrascht fest, dass das Meer irgendwie anders wurde, ich merkte sofort, dass das Wasser mit einem Mal nicht mehr so ruhig war wie vorher, die sanften Kräuselbewegungen hatten aufgehört und die Wellen schlugen viel wilder gegen den Strand als vorher. Und dann sah ich auch die Ursache dafür, -ja, das konnte es nur sein-, denn ich sah mindestens ein gutes Dutzend Seehunde ziemlich dicht vor mir im flachen Wasser schwimmen. Fast dünkte mir, sie wären irgendwie durch einen anderen Umstand abgelenkt, doch dann sahen sie mich auch schon aufmerksam an und streckten die Köpfe aus dem Wasser. Und jetzt konnte ich ihre Augen gut sehen, ihre Nasen, ja auch ihre Gesichter waren deutlich auszumachen und irgendwie meinte ich sogar, menschliche Züge bei ihnen entdecken zu können. Nur ihre langen putzigen Schnurbarthäärchen belehrten mich eines Besseren, dass sie die überall bekannten, aber eben doch sehr scheuen Meeresbewohner aus unserer heimischen Nordsee waren.
Aber dann, je länger ich mir äußerst gebannt jedes einzelne Seehundgesicht angesehen hatte, glaubte ich doch, dass ich träumen würde. Da war irgendwie ein Gesicht dabei, dass völlig anders war als die anderen. Zuallererst die Augen, sie waren dunkelbraun, gar nicht kreisrund, sondern eher etwas länglich, und dann glaubte ich sogar dicht über den Augen lange schwarze Wimpern sehen zu können. Und auch die Nase, sie war wesentlich kleiner und wirkte eher wie eine menschliche Nase, wobei die für einen Seehund typischen Schnurbarthaare dagegen völlig fehlten. Dafür hingen aber wiederum links und rechts vom Kopf wunderschöne schwarze, nass glänzende Haare herunter. Je länger ich dieses Gesicht fasziniert ansah, desto mehr wurde mir klar, dass ich in ein wunderschönes Gesicht blickte und dass es kein Seehundgesicht, sondern das einer hübschen jungen Frau war. Aber andererseits sah ich ab und zu eine Schwanzflosse hinten im Wasser sanft hin und her schlagen, wobei dagegen weiter oben zwei dünne menschliche Arme zum Vorschein kamen. Je näher dieses hübsche Wesen an das Ufer herangeschwommen war, umso mehr konnte ich mir ein Bild von dem übrigen gesamten Körper machen. Kurz unter dem winzigen Bauchnabel meinte ich sogar kleine perlmuttartig glänzende Schuppen sehen zu können und oberhalb der Taille war ein nackter, schlanker, wohlgeformter weiblicher Oberkörper auszumachen ...
Und dieses wunderbare Geschöpf schüttelte die nassen Haare, sah mich mit seinen beiden Augen an, öffnete den Mund und sprach mich mit einer Stimme an, die so fein und wohlklingend war, wie ich sie selbst von Menschen schon lange nicht mehr gehört hatte. Die Worte, die aus dem Mund herauskamen, konnte ich darüber hinaus sogar sehr deutlich verstehen und bis ich mich überhaupt aus meiner Erstarrung lösen konnte, hatte sie schon einige Sätze mit mir gesprochen.
Es waren Sätze, die ich erst langsam begriff und die ich aber mit jeder Minute etwas mehr ordnen und in einen Zusammenhang bringen konnte. Das Wesen erzählte mir, dass sie vor tausenden von Jahren mit anderen Meerjungfauen glücklich im Mittelmeer gelebt habe. Die Meerjungfrauen hätten alle zur Gruppe der ‚Nereiden’ gehört, weshalb sie jetzt übrigens auch den Namen ‚Nereide’ tragen würde. Leider sei sie eines Tages unvorsichtig gewesen und von einigen Untertanen des nordgermanischen Meeresgottes ‚Njörder’ entführt worden. Über mehrere Umwege wäre sie dann bei dem friesischen Meeresgott ‚ Ägir’ gelandet, der seit Jahrtausenden in der Nordsee mit einer größeren Anzahl von Töchtern, den sogenannten ‚Ägirstöchtern’, leben würde. Diesen Töchtern müsse sie stets dienlich sein und eine Flucht aus der Verbannung sei zwecklos, außerdem sei die Gruppe der Nereiden im Mittelmeer inzwischen sowieso längst ausgestorben. -Langsam merkte ich auch, dass ‚Nereide’ offensichtlich, trotz ihres zarten Körperbaues, schon Jahrhunderte, nein, wohl sogar über tausende von Jahren auf der Welt sein musste-. Inzwischen habe sie sich, fuhr sie fort, auch an das kalte Wasser in der Nordsee gewöhnt und Ägir lasse ihr häufig auch ein wenig Freiheit, vor allem wenn er ab und zu, so wie im Moment, für mehrere Wochen noch höher im Norden bei seinen Verwandten in Skandinavien zu Besuch sei.
Während Nereide mir dieses alles erzählt hatte, sahen ihre Augen ein wenig traurig aus, aber dann sah ich ihre Augen leuchten und ihr Gesicht hatte endlich einmal einen frohen Ausdruck. Sie sprach inzwischen von Klaus Störtebecker, den sie hier vor vielen Jahrhunderten öfter am Strand gesehen und mit dem sie viel geredet habe, bevor er dann für immer verschwunden geblieben sei. Aber gleich danach verdüsterte sich ihr Blick auch wieder und ich meinte sogar Hass und Wut aus ihrem Gesicht herauslesen zu können. Nach der Zeit mit Störtebecker habe nämlich in der Nähe auf dem Meer ständig Walfang stattgefunden, das Meer hätte ständig wild geschäumt und überall sei Blut auf der Wasseroberfläche gewesen . Die hier lebenden friedlichen Wale mussten, so erzählte sie, fürchterlich leiden, ehe sie einfach abgeschlachtet wurden; -und sie selber konnte sich häufig gerade noch vor diesen grausamen Männern und vor den abgeschossenen Harpunen unter Wasser um Haaresbreite retten.
Und dann erzählte sie weiter von einem strengen Inselvogt mit dem Namen Grotheer, der die armen Leute, die hier den Strand nach Bernstein und Muscheln oder einfach nur Brennholz abgesucht hätten, dafür immer sehr hart bestraft hatte. Jahre später habe sie aus der Ferne wieder einige Menschen am Strand beobachtet, z.B. den mächtigen Insel-Amtsrichter Vangerow; und viele Jahre danach seien auch noch vereinzelt Badegäste vorbeigekommen, die sich aber wohl hierher nur verlaufen hätten. Und jetzt sei ich eben der erste Mensch seit langer Zeit, der sich hier endlich mal wieder für einige Tage regelmäßig sehen lassen würde.
Ich hörte der Meerjungfrau aufmerksam zu, während sie von früher und von längst vergangenen Zeiten sprach und glaubte immer noch, dass das alles nicht wahr oder nur ein Traum von mir sei. Wie konnte ein Wesen, dass ständig nur im Wasser lebte, über derartige Kenntnisse verfügen und über die in den vergangenen Jahrhunderten stattgefundenen Geschehnisse der Menschheit, die ich selber auch schon in Büchern nachgelesen hatte, so detailliert Auskunft geben ? Und auch die Art und Weise, wie sie ihr Wissen von sich gab, wie sie so klar und gut strukturiert mit deutlichen und wohlgeformten Sätzen sprach, ja auch das war mir alles ein völliges Rätsel.
Doch plötzlich merkte ich, dass die Meerjungfrau, während sie mich mit ihren Worten förmlich gefesselt hatte, immer näher zu mir herangerückt war. Lag es auch daran, dass es mich selber ein wenig zum Wasser hindrängte, jedenfalls streifte ihr wunderschön geformtes fischleibähnliches Körperende schon meine nackten Beine und ein leichtes Brennen meinte ich auch auf meiner Haut zu spüren. Ihre Augen glühten mit einem Mal, während sie mich intensiv ansah, und ich meinte in den Augen alles das nochmal zu sehen und zu spüren, was sie in ihrem langen Leben bereits erleben musste. Ob Wut, Ohnmacht, Liebe, Hoffnungslosigkeit, ich konnte es nur erahnen, aber während der ganzen Zeit sah ich ständig die unheimliche Glut, die in ihren Augen und sogar im ganzen Körper mit jeder weiteren Sekunde immer mehr zu brennen schien.
Währenddessen waren die Wellen hinter ihr auch immer höher und wilder geworden, von den Seehunden war jetzt keiner mehr auszumachen und das Wasser fing darüber hinaus auch langsam an, irgendwie einen starken Sog auf mich auszuüben, als wollte es mich in das Meer hineinziehen. Die Bewegungen der Meerjungfrau wurden ungestümer und leidenschaftlicher und gleichzeitig ertönte neben dem wilden Lachen auch nun eine Stimme aus ihrem Mund, die so intensiv und kräftig vom Alleinsein und von Hoffnung redete, als wolle sie damit draußen auf hoher See an Schiffen und Planken rütteln und versuchen, die Masten auf den Schiffen zum Abknicken zu bringen.
Die Meeresbrandung wurde jetzt noch höher und größer und sie drohte mich einzuschnüren und mich wie mit Fesseln in das Meer hineinzusaugen. Die Kraft der Brandung und das wilde Spiel der Meerjungfrau wirkte immer unwiderstehlicher, der Wind kam mir langsam wie ein Orkan vor und die schäumenden Meereswogen hatten sich inzwischen mit dem auf dem Meeresgrund gelegenen Sand vermischt. Alles drohte mich mitzureißen und zu überspülen, einzuhüllen in einen weißen Schaum, mich zu erdrücken und für immer in das Meer mitzunehmen. Ich spürte, wie mich der Sand, auf dem ich gesessen hatte, allmählich in das Meer hineinbewegte und wie er zwischen meinen Zehen gluckernd hindurchfloss. Im Wettlauf mit den wütenden Winden merkte ich, dass die Meerjungfrau irgendwie versuchte, mich in die Gischt einzuhüllen und dann wie in einer schaumartig eingewebten Wand als ein lebendiger Kokon in die Tiefe des Meeres hinabzutransportieren …
Doch in all dem Getöse trafen sich plötzlich unsere Augen, der Blick der Meerjungfrau erschien mir mit einem Mal anders zu sein, Nereide hatte jetzt einen Blick, der eher fürsorglich und mitfühlend geworden war. Offensichtlich registrierte sie in meinen Augen eine gewisse Todesangst, die in mir herrschte und ihr wurde vermutlich schnell selber bewusst, wie man sich fühlt, wenn man in große Bedrängnis gerät. Und schon merkte ich, dass das wilde Spiel etwas abnahm und die Bewegungen ihres Körpers, ihrer Arme und der großen Schwanzflosse nicht mehr so intensiv wie vorher waren. Hätte sie mich aber noch wenige Sekunden so kraftvoll in ihrer Umklammerung gelassen, wären bei mir die erforderliche Kräfte, um mich ihren Umarmungen entgegenzustemmen, nicht mehr dagewesen und ich wäre vermutlich unweigerlich und unrettbar im Meer ertrunken.
Vielleicht war es Mitleid, das sie im Laufe ihres Spiels mit mir empfunden hatte, jedenfalls zog sie sich etwas mehr in das Meer zurück und rief mir noch zu, dass sie mich in den ganzen letzten Tagen schon immer beobachtet habe und sie eben gerade leider aus der Kontrolle geraten sei. In ihrem Gesicht sah ich jetzt wieder das liebreizende Lächeln, das mich vorher so sehr in den Bann gezogen hatte, und gerade gelang es mir noch, mir ebenfalls ein zustimmendes Lächeln abzuringen, doch dann war das Wasser plötzlich wieder so ruhig wie zuvor. Ich sah das kräuselnde Wasser, hörte den ewig gleichförmigen Wellenschlag in meinen Ohren und spürte, dass die Sonne bereits anfing, ganz allmählich meine Haut zu trocknen, -nur das leichte Brennen an meinen Beinen und den Füßen erinnerte mich jetzt noch an Nereide ...
-Text geht unten weiter-
Weit entfernt vom Inselort, draußen am Ostende, dort wo man das Süderriff sieht und am Horizont schon deutlich die ersten Sandbänke von Spiekeroog erblicken kann, gibt es ein lauschiges einsames windstilles Plätzchen. Nur wenige Menschen fanden offensichtlich jemals dorthin und vielleicht wird auch künftig kaum einer dieses kleine Versteck am Meer finden. Und ich saß nun, seitdem ich auf der Insel war, jeden Tag hier und blickte auf das Meer ...
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Wenn ich heute, Jahre später, an diese Stelle zurückdenke, dann war es tatsächlich so, dass ich sie nur durch Zufall gefunden hatte. Denn in den ersten Tagen auf der Insel fuhr ich frühmorgens nur deswegen mit dem Fahrrad den Weg über den Langeooger Schniederdamm und dann in Richtung ‚Alte Meierei’ bis hin zum entlegenen Ostende der Insel, um die grandiose Natur links und rechts des Weges ausgiebig zu bewundern. Während der Radelei bekam ich schnell eine Ahnung von der großartigen Weite der Landschaft, ständig konnte ich weit hinaus bis zum Horizont blicken und zwar so weit, bis zum Schluss alles zu verschmelzen schien. Die unendlichen Wiesen- und Wattlandschaften vereinigten sich mit dem riesengroßen blauen Himmel und den grauweißen Wolkengebilden und ich lief ständig Gefahr, mit den eigenen Blicken förmlich in der dunstigen Unendlichkeit zu ertrinken. Dazu kam, dass damals im Mai überall in der Luft, auf dem Wasser oder im hohen Gras alle möglichen Wasser- und Wattvögel die riesige Szenerie beherrschten. Ständig sangen, riefen und schnatterten Brand-, Ringel- und Graugänse um die Wette und aus den sich so wunderbar sanft hin- und herwiegenden Gräserwellen ragten immer wieder lange Vogelhälse hervor, um die Lage genauestens zu sondieren. Ja, -es galt ja auch äußerst behutsam vorzugehen, um vielleicht das dichte Gräserwerk mit den kleinen aufgeregt piependen Gänseküken mal wieder zu verlassen, denn schließlich musste die große Familie irgendwie mit immer neuer Nahrung versorgt werden.
Lange hatte ich jedes Mal von weitem diesem Treiben der Vogelwelt begeistert zugesehen, oft war ich stehen geblieben und konnte absolut kein Ende finden. Und zum Schluss war ich dann, völlig erfüllt von den vielen Eindrücken, irgendwo
gelandet. Aber eben nicht irgendwo, sondern ich ließ mich, zunächst zufällig, aber später beabsichtigt, an diesem seltsamen einsamen Ort, von dem ich gleich erzählen werde, einfach im weißen weichen Sand nieder. So entdeckte ich auf diese Art und Weise einen herrlichen Platz, ein kleines Plätzchen nur, um ganz alleine auf das Meer zu schauen und die Stille tief und bewusst einzuatmen, um Ruhe zu finden und um die Zeit um mich herum an diesem menschenleeren Fleck völlig zu vergessen.
So saß ich auch an diesem besonderen Tag dort, es war der letzte während meines Aufenthaltes. Das brütende
Austernfischerpaar in der Nähe hatte sich längst an mich gewöhnt und am Strand liefen eilig einige Möwen auf und ab, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich sah auf die Wellen, auf das Wasser und den Strand und war dem Meer mit jedem Tag ein Stückchen mehr innig verbunden. Aber ganz plötzlich stellte ich überrascht fest, dass das Meer irgendwie anders wurde, ich merkte sofort, dass das Wasser mit einem Mal nicht mehr so ruhig war wie vorher, die sanften Kräuselbewegungen hatten aufgehört und die Wellen schlugen viel wilder gegen den Strand als vorher. Und dann sah ich auch die Ursache dafür, -ja, das konnte es nur sein-, denn ich sah mindestens ein gutes Dutzend Seehunde ziemlich dicht vor mir im flachen Wasser schwimmen. Fast dünkte mir, sie wären irgendwie durch einen anderen Umstand abgelenkt, doch dann sahen sie mich auch schon aufmerksam an und streckten die Köpfe aus dem Wasser. Und jetzt konnte ich ihre Augen gut sehen, ihre Nasen, ja auch ihre Gesichter waren deutlich auszumachen und irgendwie meinte ich sogar, menschliche Züge bei ihnen entdecken zu können. Nur ihre langen putzigen Schnurbarthäärchen belehrten mich eines Besseren, dass sie die überall bekannten, aber eben doch sehr scheuen Meeresbewohner aus unserer heimischen Nordsee waren.
Aber dann, je länger ich mir äußerst gebannt jedes einzelne Seehundgesicht angesehen hatte, glaubte ich doch, dass ich träumen würde. Da war irgendwie ein Gesicht dabei, dass völlig anders war als die anderen. Zuallererst die Augen, sie waren dunkelbraun, gar nicht kreisrund, sondern eher etwas länglich, und dann glaubte ich sogar dicht über den Augen lange schwarze Wimpern sehen zu können. Und auch die Nase, sie war wesentlich kleiner und wirkte eher wie eine menschliche Nase, wobei die für einen Seehund typischen Schnurbarthaare dagegen völlig fehlten. Dafür hingen aber wiederum links und rechts vom Kopf wunderschöne schwarze, nass glänzende Haare herunter. Je länger ich dieses Gesicht fasziniert ansah, desto mehr wurde mir klar, dass ich in ein wunderschönes Gesicht blickte und dass es kein Seehundgesicht, sondern das einer hübschen jungen Frau war. Aber andererseits sah ich ab und zu eine Schwanzflosse hinten im Wasser sanft hin und her schlagen, wobei dagegen weiter oben zwei dünne menschliche Arme zum Vorschein kamen. Je näher dieses hübsche Wesen an das Ufer herangeschwommen war, umso mehr konnte ich mir ein Bild von dem übrigen gesamten Körper machen. Kurz unter dem winzigen Bauchnabel meinte ich sogar kleine perlmuttartig glänzende Schuppen sehen zu können und oberhalb der Taille war ein nackter, schlanker, wohlgeformter weiblicher Oberkörper auszumachen ...
Und dieses wunderbare Geschöpf schüttelte die nassen Haare, sah mich mit seinen beiden Augen an, öffnete den Mund und sprach mich mit einer Stimme an, die so fein und wohlklingend war, wie ich sie selbst von Menschen schon lange nicht mehr gehört hatte. Die Worte, die aus dem Mund herauskamen, konnte ich darüber hinaus sogar sehr deutlich verstehen und bis ich mich überhaupt aus meiner Erstarrung lösen konnte, hatte sie schon einige Sätze mit mir gesprochen.
Es waren Sätze, die ich erst langsam begriff und die ich aber mit jeder Minute etwas mehr ordnen und in einen Zusammenhang bringen konnte. Das Wesen erzählte mir, dass sie vor tausenden von Jahren mit anderen Meerjungfauen glücklich im Mittelmeer gelebt habe. Die Meerjungfrauen hätten alle zur Gruppe der ‚Nereiden’ gehört, weshalb sie jetzt übrigens auch den Namen ‚Nereide’ tragen würde. Leider sei sie eines Tages unvorsichtig gewesen und von einigen Untertanen des nordgermanischen Meeresgottes ‚Njörder’ entführt worden. Über mehrere Umwege wäre sie dann bei dem friesischen Meeresgott ‚ Ägir’ gelandet, der seit Jahrtausenden in der Nordsee mit einer größeren Anzahl von Töchtern, den sogenannten ‚Ägirstöchtern’, leben würde. Diesen Töchtern müsse sie stets dienlich sein und eine Flucht aus der Verbannung sei zwecklos, außerdem sei die Gruppe der Nereiden im Mittelmeer inzwischen sowieso längst ausgestorben. -Langsam merkte ich auch, dass ‚Nereide’ offensichtlich, trotz ihres zarten Körperbaues, schon Jahrhunderte, nein, wohl sogar über tausende von Jahren auf der Welt sein musste-. Inzwischen habe sie sich, fuhr sie fort, auch an das kalte Wasser in der Nordsee gewöhnt und Ägir lasse ihr häufig auch ein wenig Freiheit, vor allem wenn er ab und zu, so wie im Moment, für mehrere Wochen noch höher im Norden bei seinen Verwandten in Skandinavien zu Besuch sei.
Während Nereide mir dieses alles erzählt hatte, sahen ihre Augen ein wenig traurig aus, aber dann sah ich ihre Augen leuchten und ihr Gesicht hatte endlich einmal einen frohen Ausdruck. Sie sprach inzwischen von Klaus Störtebecker, den sie hier vor vielen Jahrhunderten öfter am Strand gesehen und mit dem sie viel geredet habe, bevor er dann für immer verschwunden geblieben sei. Aber gleich danach verdüsterte sich ihr Blick auch wieder und ich meinte sogar Hass und Wut aus ihrem Gesicht herauslesen zu können. Nach der Zeit mit Störtebecker habe nämlich in der Nähe auf dem Meer ständig Walfang stattgefunden, das Meer hätte ständig wild geschäumt und überall sei Blut auf der Wasseroberfläche gewesen . Die hier lebenden friedlichen Wale mussten, so erzählte sie, fürchterlich leiden, ehe sie einfach abgeschlachtet wurden; -und sie selber konnte sich häufig gerade noch vor diesen grausamen Männern und vor den abgeschossenen Harpunen unter Wasser um Haaresbreite retten.
Und dann erzählte sie weiter von einem strengen Inselvogt mit dem Namen Grotheer, der die armen Leute, die hier den Strand nach Bernstein und Muscheln oder einfach nur Brennholz abgesucht hätten, dafür immer sehr hart bestraft hatte. Jahre später habe sie aus der Ferne wieder einige Menschen am Strand beobachtet, z.B. den mächtigen Insel-Amtsrichter Vangerow; und viele Jahre danach seien auch noch vereinzelt Badegäste vorbeigekommen, die sich aber wohl hierher nur verlaufen hätten. Und jetzt sei ich eben der erste Mensch seit langer Zeit, der sich hier endlich mal wieder für einige Tage regelmäßig sehen lassen würde.
Ich hörte der Meerjungfrau aufmerksam zu, während sie von früher und von längst vergangenen Zeiten sprach und glaubte immer noch, dass das alles nicht wahr oder nur ein Traum von mir sei. Wie konnte ein Wesen, dass ständig nur im Wasser lebte, über derartige Kenntnisse verfügen und über die in den vergangenen Jahrhunderten stattgefundenen Geschehnisse der Menschheit, die ich selber auch schon in Büchern nachgelesen hatte, so detailliert Auskunft geben ? Und auch die Art und Weise, wie sie ihr Wissen von sich gab, wie sie so klar und gut strukturiert mit deutlichen und wohlgeformten Sätzen sprach, ja auch das war mir alles ein völliges Rätsel.
Doch plötzlich merkte ich, dass die Meerjungfrau, während sie mich mit ihren Worten förmlich gefesselt hatte, immer näher zu mir herangerückt war. Lag es auch daran, dass es mich selber ein wenig zum Wasser hindrängte, jedenfalls streifte ihr wunderschön geformtes fischleibähnliches Körperende schon meine nackten Beine und ein leichtes Brennen meinte ich auch auf meiner Haut zu spüren. Ihre Augen glühten mit einem Mal, während sie mich intensiv ansah, und ich meinte in den Augen alles das nochmal zu sehen und zu spüren, was sie in ihrem langen Leben bereits erleben musste. Ob Wut, Ohnmacht, Liebe, Hoffnungslosigkeit, ich konnte es nur erahnen, aber während der ganzen Zeit sah ich ständig die unheimliche Glut, die in ihren Augen und sogar im ganzen Körper mit jeder weiteren Sekunde immer mehr zu brennen schien.
Währenddessen waren die Wellen hinter ihr auch immer höher und wilder geworden, von den Seehunden war jetzt keiner mehr auszumachen und das Wasser fing darüber hinaus auch langsam an, irgendwie einen starken Sog auf mich auszuüben, als wollte es mich in das Meer hineinziehen. Die Bewegungen der Meerjungfrau wurden ungestümer und leidenschaftlicher und gleichzeitig ertönte neben dem wilden Lachen auch nun eine Stimme aus ihrem Mund, die so intensiv und kräftig vom Alleinsein und von Hoffnung redete, als wolle sie damit draußen auf hoher See an Schiffen und Planken rütteln und versuchen, die Masten auf den Schiffen zum Abknicken zu bringen.
Die Meeresbrandung wurde jetzt noch höher und größer und sie drohte mich einzuschnüren und mich wie mit Fesseln in das Meer hineinzusaugen. Die Kraft der Brandung und das wilde Spiel der Meerjungfrau wirkte immer unwiderstehlicher, der Wind kam mir langsam wie ein Orkan vor und die schäumenden Meereswogen hatten sich inzwischen mit dem auf dem Meeresgrund gelegenen Sand vermischt. Alles drohte mich mitzureißen und zu überspülen, einzuhüllen in einen weißen Schaum, mich zu erdrücken und für immer in das Meer mitzunehmen. Ich spürte, wie mich der Sand, auf dem ich gesessen hatte, allmählich in das Meer hineinbewegte und wie er zwischen meinen Zehen gluckernd hindurchfloss. Im Wettlauf mit den wütenden Winden merkte ich, dass die Meerjungfrau irgendwie versuchte, mich in die Gischt einzuhüllen und dann wie in einer schaumartig eingewebten Wand als ein lebendiger Kokon in die Tiefe des Meeres hinabzutransportieren …
Doch in all dem Getöse trafen sich plötzlich unsere Augen, der Blick der Meerjungfrau erschien mir mit einem Mal anders zu sein, Nereide hatte jetzt einen Blick, der eher fürsorglich und mitfühlend geworden war. Offensichtlich registrierte sie in meinen Augen eine gewisse Todesangst, die in mir herrschte und ihr wurde vermutlich schnell selber bewusst, wie man sich fühlt, wenn man in große Bedrängnis gerät. Und schon merkte ich, dass das wilde Spiel etwas abnahm und die Bewegungen ihres Körpers, ihrer Arme und der großen Schwanzflosse nicht mehr so intensiv wie vorher waren. Hätte sie mich aber noch wenige Sekunden so kraftvoll in ihrer Umklammerung gelassen, wären bei mir die erforderliche Kräfte, um mich ihren Umarmungen entgegenzustemmen, nicht mehr dagewesen und ich wäre vermutlich unweigerlich und unrettbar im Meer ertrunken.
Vielleicht war es Mitleid, das sie im Laufe ihres Spiels mit mir empfunden hatte, jedenfalls zog sie sich etwas mehr in das Meer zurück und rief mir noch zu, dass sie mich in den ganzen letzten Tagen schon immer beobachtet habe und sie eben gerade leider aus der Kontrolle geraten sei. In ihrem Gesicht sah ich jetzt wieder das liebreizende Lächeln, das mich vorher so sehr in den Bann gezogen hatte, und gerade gelang es mir noch, mir ebenfalls ein zustimmendes Lächeln abzuringen, doch dann war das Wasser plötzlich wieder so ruhig wie zuvor. Ich sah das kräuselnde Wasser, hörte den ewig gleichförmigen Wellenschlag in meinen Ohren und spürte, dass die Sonne bereits anfing, ganz allmählich meine Haut zu trocknen, -nur das leichte Brennen an meinen Beinen und den Füßen erinnerte mich jetzt noch an Nereide ...
-Text geht unten weiter-
Langsam stand ich auf, stapfte durch den Sand und merkte, dass meine Glieder jetzt schwer und müde waren. Ich erreichte die Dünen und blickte zurück auf den Strand und das Meer. Nichts war mehr zu sehen von Nereide, auch fühlte ich, dass sie mich nicht mehr aus der Ferne beobachtete, vermutlich war sie nun wohl unwiderruflich für immer verschwunden. Ich drehte mich um und erreichte den kleinen Pfad, auf dem ich gekommen war, irgendwie fühlte ich mich leer und verlassen, Nereide hätte ich gerne noch einmal gesehen, gerne noch einige Worte mit ihr vor unserem endgültigen Abschied gewechselt. Und ich wusste jetzt, dass sie es eigentlich nur gut mit mir gemeint hatte, war sie doch sehr einsam und froh gewesen, mit jemandem endlich einmal nach langer Zeit ein Gespräch führen zu können. Vielleicht fand sie mich auch ganz nett und war jetzt genauso niedergeschlagen wie ich. Offensichtlich brauchte sie nur etwas körperliche Wärme, weil die Nordsee häufig für sie ziemlich kalt war. Vermutlich haderte sie in diesem Moment am meisten mit sich selber und bereute zutiefst, dass sie mich so ungestüm in ihre Umklammerung nehmen konnte. Nun schwamm sie bestimmt unendlich traurig durch das kalte Wasser zurück, bis sie wieder das Reich Ägirs erreicht hatte.
Mit jeder Minute, die ich mich von dem Ort unseres Zusammentreffens entfernte, wurde ich immer trauriger, denn ich wusste, dass ich völlig machtlos war, um sie jemals überhaupt aus dieser Lage herausbringen zu können. Aber vielleicht konnte ich sie eines Tages ja doch noch einmal treffen, beruhigte ich mich dann wieder, die Wahrscheinlichkeit war ja ziemlich groß, ich bräuchte mich ja nur wieder an unseren Treffpunkt begeben und sie käme bestimmt wieder herangeschwommen. Wir würden uns unterhalten und evtl. sogar auch Möglichkeiten finden, wie man miteinander zukünftig umgehen konnte. Mit diesen Gedanken tröstete ich mich, obwohl mir mein Verstand sagte, dass meine Überlegungen für die Zukunft eigentlich absurd waren, ab morgen befände ich mich ja wieder auf dem Festland und die Meerjungfrau vom Süderriff hätte ich dann wahrscheinlich nach einigen Monaten längst vergessen …
…Oder, so dachte ich nach einer Weile, würde ich Nereide vielleicht doch eines Tages wiedersehen ? Zumindest war es ja schon während meines nächsten Aufenthaltes einen Versuch wert, ...aber dann nicht nur einen Versuch, sondern auch mehrere.
Vielleicht ergibt sich dadurch irgendwann die Möglichkeit, noch einmal mit Nereide in Kontakt zu treten, noch einmal sie zu sehen, noch einmal mit ihr zu reden ... Ach, ich wünsche es mir sehr!
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…Weit entfernt vom Inselort, draußen am Ostende, dort wo man das Süderriff sieht und am Horizont schon deutlich die ersten Sandbänke von Spiekeroog erblicken kann, gibt es ein lauschiges einsames windstilles Plätzchen. Nur wenige Menschen fanden offensichtlich jemals dorthin und vielleicht wird auch künftig kaum einer dieses kleine Versteck am Meer finden. Und ich saß nun, seitdem ich wieder auf der Insel war, jeden Tag hier und blickte auf das Meer ...
…und dachte an Nereide…
© Wolfgang Seekamp
-Ende- Eigene Fotos_
Mit jeder Minute, die ich mich von dem Ort unseres Zusammentreffens entfernte, wurde ich immer trauriger, denn ich wusste, dass ich völlig machtlos war, um sie jemals überhaupt aus dieser Lage herausbringen zu können. Aber vielleicht konnte ich sie eines Tages ja doch noch einmal treffen, beruhigte ich mich dann wieder, die Wahrscheinlichkeit war ja ziemlich groß, ich bräuchte mich ja nur wieder an unseren Treffpunkt begeben und sie käme bestimmt wieder herangeschwommen. Wir würden uns unterhalten und evtl. sogar auch Möglichkeiten finden, wie man miteinander zukünftig umgehen konnte. Mit diesen Gedanken tröstete ich mich, obwohl mir mein Verstand sagte, dass meine Überlegungen für die Zukunft eigentlich absurd waren, ab morgen befände ich mich ja wieder auf dem Festland und die Meerjungfrau vom Süderriff hätte ich dann wahrscheinlich nach einigen Monaten längst vergessen …
…Oder, so dachte ich nach einer Weile, würde ich Nereide vielleicht doch eines Tages wiedersehen ? Zumindest war es ja schon während meines nächsten Aufenthaltes einen Versuch wert, ...aber dann nicht nur einen Versuch, sondern auch mehrere.
Vielleicht ergibt sich dadurch irgendwann die Möglichkeit, noch einmal mit Nereide in Kontakt zu treten, noch einmal sie zu sehen, noch einmal mit ihr zu reden ... Ach, ich wünsche es mir sehr!
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…Weit entfernt vom Inselort, draußen am Ostende, dort wo man das Süderriff sieht und am Horizont schon deutlich die ersten Sandbänke von Spiekeroog erblicken kann, gibt es ein lauschiges einsames windstilles Plätzchen. Nur wenige Menschen fanden offensichtlich jemals dorthin und vielleicht wird auch künftig kaum einer dieses kleine Versteck am Meer finden. Und ich saß nun, seitdem ich wieder auf der Insel war, jeden Tag hier und blickte auf das Meer ...
…und dachte an Nereide…
© Wolfgang Seekamp
-Ende- Eigene Fotos_