Nikolaus-Laufen
-Großvater erzählt-
Es gibt ihn schon sehr lange und es gibt ihn immer noch, den Nikolaustag am 6.Dezember. An diesem Tag (in manchen Regionen auch am Abend davor) ziehen die Kinder singend mit einer Nikolausmütze verkleidet und mit einem Stock in der Hand von Haus zu Haus bzw.von Geschäft zu Geschäft und sagen einen Spruch auf. Dabei strecken sie ihre mitgebrachten Nikolaus-Beutel weit von sich und warten, dass etwas Schönes in den Beutel hineingetan wird bzw. hinein’plumpsen’ möge …!
(Hinweis: Bei dem Ort -in dieser wahren Geschichte aus meiner Jugendzeit- handelt es sich um den
Bremer Stadtteil Mahndorf !)
(Hinweis: Bei dem Ort -in dieser wahren Geschichte aus meiner Jugendzeit- handelt es sich um den
Bremer Stadtteil Mahndorf !)
„Sunnerkluus, de grode Man
kloppt an alle Dören an,
lütte Kinner bringt he wat,
grote Kinner steckt he in den Sack.
Halli, halli, hallo, nu geiht’t na Bremen to !“
(Hinweis: Sunnerkluus ist die plattdeutsche Form von Nikolaus)
Ja diesen Nikolausspruch musste man natürlich am 6.Dezember ‚draufhaben’, -spätestens, wenn Nikolauslaufen angesagt war. Mit Einsetzen der Dämmerung zogen wir Kinder damals schon am Nachmittag los, um zu unserer vorweihnachtlich
geschmückten Dorfstraße zu gehen. Jeder war natürlich, wie es der Brauch forderte, mit einem Stock und einem kleinen Beutel bewaffnet und hatte außerdem eine passende rote Nikolausmütze auf dem Kopf. Unsere Dorfstraße war damals der absolute Lebensmittelpunkt in unserem kleinen Ort. Ständig waren wir dort unterwegs, irgendetwas gab’s immer zu tun und wenn es nichts zu tun gab, waren wir ‚trotzdem dort’. Es war und blieb für uns Kinder immer spannend, sobald wir uns in dieser für unser Dorf so wichtigen Straße aufhielten!
Unendlich lang und groß kam sie uns damals vor. Immerhin erstreckte sie sich ca. 1 km von einem Ortsende bis zum
anderen. Entlang der Straße lagen die Geschäfte dicht nebeneinander. Viele Geschäfte waren schon seit einigen Tagen auffallend schön und stimmungsvoll geschmückt und die Advents-Kerzen brannten und flackerten vor jedem Geschäft. Je dunkler es wurde, umso gemütlicher und festlicher erschien alles, natürlich vor allem jetzt, am Nikolaustag. Die ganze Straße hatte sich verwandelt in ein wunderbares und einzigartig leuchtendes Lichtermeer und wenn dann auch noch Schnee lag, hatte für uns Kinder der absolute Winteradvents-Traum begonnen. Etwas Schöneres konnte es im Dezember nicht geben und der Nikolaustag war sowieso der Höhepunkt in der ganzen gesamten Vorweihnachtszeit !
Als wir, meine etwas ältere Schwester und ich, nun wieder an einem Nikolaustag mit dem Laufen anfingen, rannten schon überall aufgeregte Jungen und Mädchen hin und her. Die Ladentüren gingen ständig auf und zu und die überhitzte warme Ladenluft und die eisig kalte Winterluft schlug uns jedes Mal schlagartig entgegen. Es war so, als wenn wir immer eine kleine Ohrfeige auf unsere Wangen erhielten. Dementsprechend stolperten wir auch mit knallig-roten Gesichtern von einem Ladeneingang zum nächsten. Vorbei ging es am Kolonialwarenladen ‚Jung’ und Schlachter ‚Carsten’, dann kam Schreibwaren ‚Frank’ und Bäcker ‚Kempe’, dann nochmal ein Schlachter mit dem Namen ‚Sasse’ und danach kam der ‚Konsum’ und die Drogerie Hornkohl sowie Eisenwaren Wilkens...
Und so ging es weiter und weiter. Es wurde gedrängelt und gedrückt, die Gesichter glühten und die Nikolaussprüche sagten wir zunächst etwas unsicher, aber dann immer mehr und mehr fehlerfrei auf. Jedesmal befühlten wir heimlich unsere Säcke, sie wurden voller und voller und mit unseren Stöcken stampften wir mutig und voller Begeisterung immer noch viel kräftiger auf den Ladenboden als zuvor:
„Ick bün so’n lütten König,
giff mi nich to wenig,
loot mi nich to lange stohn,
denn ick mutt noch wieter gohn !
Halli, halli, hallo,
nu geiht’t na Bremen to !“
’Immer hinein in die Säcke’ rief jemand und irgendwann packte uns endgültig das Jagdfieber: Auf die Kekse vom Bäcker kam die Wurstscheibe vom Schlachter. Kurz darauf folgten zwei weiße süße Zuckersternchen begleitet von mehreren Hasel- nüssen. Und dann, dann kam ein ziemlich großer Schokoladenmann hineingeflogen und war für kurze Zeit der große Star im Beutel. Aber kaum dass er sich einen angemessenen Platz aussuchen konnte, prasselten schon 3 dicke Walnüsse hin- terher und zwar direkt und zielgenau auf das stolze schöne Haupt des prächtigen Schokomannes. Und ehe der sich versah, wurde er postwendend weiter nach unten ‚durchgereicht’, denn kurz danach platschte eine warm und frisch duftende Scheibe Gekochte von Schlachter ‚Sasse’ auf die gerade gemütlich eingerichtete Versammlung, und zwar direkt oben hinauf. Das große fleischige Prachtstück bekam aber ebenfalls gleich wieder Besuch: Ein nagelneuer Bleistift von Schreibwaren ‚Frank’ spießte seine messerscharfspitze Vorderseite genau mittig in die ungeschützte Flanke der Fleischscheibe tief und tiefer hinein. Außerdem prasselten ständig, passend zur Adventszeit, diverse Spekulatius-Kekse und Marzipan-Kügelchen in den Beutel hinunter, verfolgt wiederum von granitharten Lebkuchenstückchen; ...und so ging es weiter und weiter. Die ganze lange Straße wurde von den Kindern und von mir im wahrsten Sinne des Wortes akribisch ‚abgearbeitet’ und es ging einmal die ganze lange Straße hoch und dann wieder komplett hinunter, wobei natürlich kein Laden ausgelassen werden durfte.
Ja, so ging es die ganze Zeit, doch allmählich neigte sich dieses ‚Sunnerkluus’-Laufen dem Ende entgegen. Ich begab mich nun langsam auf den Heimweg. Meine Schwester, mit der ich lange gemeinsam gegangen war, hatte ich allerdings
inzwischen aus den Augen verloren, sie war wohl schon längst wieder zu Hause und vermutlich nicht so versessen wie ich gewesen, einen bis zum Rand prall gefüllten Nikolaus-Sack mit nach Hause zu bringen !
Am Ende jedoch, kurz vor der Abzweigung in unsere kleine Wohnstraße, kam ich noch am Obst- und Gemüsegeschäft Henry Tietjen vorbei und trotz der langsam doch etwas unangenehm werdenden Kälte nahm ich mir diesen kleinen Laden
sozusagen als finalen krönenden Abschluss vor. Schließlich war es ja auch so, dass meine Eltern dort regelmäßig einkauften und „Henry“, der Ladenbesitzer, mir daher bestimmt ‚garantiert’ noch zwei oder drei kleine süße Mandarinen in den Beutel hineintun würde !
Aber plötzlich stockte ich: Mitten vor dem Eingang hatte sich ein großer verkleideter Weihnachts- bzw. Nikolausmann
aufgebaut. Er sah mich sehr streng von oben bis unten an und bevor ich mich versah, machte es „plumps“ und noch einmal „plumps“ und irgendwelche Dinge fielen in meinen Beutel hinein, sehen konnte man bei der längst eingetretenen Dunkelheit ohnenhin nicht mehr viel. „Na gut, schon wieder einige schöne Beutestücke mehr“, dachte ich und zu Hause würde ich sowieso alles sehr genussvoll und genauestens betrachten. Mit den zusätzlichen zwei Mandarinen im Beutel flitzte ich nun schnell und sehr glücklich nach Hause, um meine mühsam mit Nikolaus- und Weihnachtsliedern gesammelten Werke endlich in der warmen Küche in Augenschein zu nehmen. Ha, dachte ich triumphierend, was wohl meine Schwester sagen würde, ob sie auch so ähnlich gewaltige Erfolge vermelden konnte wie ich ?
Zu Hause in der Küche trafen wir uns wieder, meine Schwester war inzwischen schon gemütlich am Kauen, ein nettes kleines Häufchen mit den verschiedensten Köstlichkeiten lag vor ihr. Ganz schön, was meine Schwester da gesammelt hatte, dachte ich, aber warte mal ab, nun,...nun würde ich endlich kommen !....Sorgfältig und behutsam drehte ich meinen Beutel um, nachdem ich vorher eine verhältnismäßig große Tischfläche ausgesucht und freigemacht hatte. Und dann breitete sich der ganze bunte zusammengewürfelte, zunächst etwas undefinierbar aussehende Inhalt vor mir aus und ich konnte nun alles genauestens in Augenschein nehmen. Logisch, dass so einiges inzwischen zerbrochen war; ja, das hatte ich wohl einkalkuliert, aber, so dachte ich gleich am Anfang mit leichtem Bedauern, von den vielen wunderbaren Spekulatius-Stücken hätten ja wirklich noch ein bisschen mehr schöne Bissen intakt bleiben können. Stattdessen sah ich nur eine nicht enden wollende dicke Krümelschicht vor mir auf dem Tisch liegen. Leider, leider waren auch einige andere der vielen leckeren Stücke ebenfalls beschädigt, das musste ich inzwischen wohl zugeben, die Enttäuschung wollte und wollte kein Ende nehmen. Na gut, tröstete ich mich, es blieben ja trotzdem noch einige Leckereien übrig und bald steckte ich dann auch ein erstes kleines noch heil gebliebenes Spekulatius-Stück in den Mund ! Schnell folgte das kleine Zimtstück vom Bäcker, darauf war ich sowieso scharf gewesen, und anschließend begann ich sofort mit vollem Mund eine Schokoladenkugel vom Kolonialwarenladen Jung aus dem Silberpapier herauszuwickeln.
Bevor ich aber soweit war, hielt ich plötzlich inne mit dem Kauen, irgendwie wollte sich der gewohnte totale aus früheren Jahren bekannte Adventsgenuss partout nicht bei mir einstellen. So sehr ich auch meine Zunge und die übrigen Geschmacksorgane angestrengt einsetzte, fühlte ich, das irgendetwas nicht stimmte. Was war das, was war da los, was war mit dem Spekulatius-Keks und mit dem leckeren Zimt-Stück ? Irgendetwas war doch nicht in Ordnung, denn alles kam mir ein bisschen komisch vor. Und es kam mir nicht nur komisch vor, es schmeckte auch abscheulich! Ja wirklich abscheulich, denn es schmeckte alles nach … Seife! Tatsächlich, ich konnte es fast nicht glauben, meine ganzen so mühsam ersammelten Köstlichkeiten schmeckten unverwechselbar nach Seife! ....Und schnell stand für mich auch hundertprozentig fest, dieser garstige Seifengeschmack, den wollte und möchte man bei den vielen großen und kleinen Süßigkeiten und Keksen doch ganz bestimmt nicht auf der Zunge haben,…ODER ?
„Wusstest du denn nicht, dass im Weihnachtsmannkostüm eine ‚Tante’ steckte und dass diese 'Tante' hier in der Nähe in
einer kleinen Seitenstraße einen kleinen Laden mit verschiedenen Seifen, Reinigungs- und Waschmitteln vor kurzem eröffnet hatte ?“ sagte meine Schwester und sie lächelte milde und hatte dabei, trotz ihres jungen Alters, eine mit allen Wassern gewaschene ‚Hausfrauen’-Miene aufgesetzt ! Ja, dämmerte es bei mir, sie hatte ja recht, ich hatte das auch wohl am Rande mitbekommen, diese ‚gute Tante’ aus der Nachbarschaft war ja noch vor kurzem bei uns zu Hause an der Haustür gewesen, SIE hatte es also getan ! Und SIE hatte doch wirklich eine Auswahl ihrer, in Anführungsstrichen, „verlockend“ duftenden Seifenproben in meinen Beutel getan! Ich kochte vor Wut, was hatten Süßigkeiten und Kekse und Schokomänner überhaupt mit Seifenproben zu tun ? So etwas müsste man doch verbieten !
Doch, wie es so häufig ist, mein Zorn verrauchte irgendwann wieder, zumal meine Schwester mich besänftigte und gleich darauf meinte, dass wohl genug für alle da sei. Und schon zeigte sie gleich mit einladender Geste auf ihren eigenen Teller, auf dem sich wahrlich noch in genügendem Maße die allerschönsten Süßigkeiten ausbreiteten. Und dann kam auch irgendwann unsere Mutter in die Küche und freute sich sogleich, dass wir so einträchtig zusammen saßen. Eine kleine Adventskerze brannte inzwischen ebenfalls auf dem Tisch und meine Schwester und ich hatten die Köpfe zusammengesteckt. Wir schmausten beide vor uns hin und steckten uns nach und nach die wunderbarsten Dinge in den Mund. „Nun esst nicht zuviel“, rief unsere Mutter, „denkt daran, ihr habt ja schließlich auch noch den Nikolaus-Teller und außerdem essen wir ja bald Abendbrot !“ Ja, das war schön, dass sie mich an meinen Nikolaus-Teller erinnerte, es machte mir die ‚Niederlage’ von vorhin doch noch ein wenig erträglicher. Und meine Miene hellte sich nun endgültig auf, in meinem Gesicht stellte sich wieder der 'Nikolaus-Glanz' von heute nachmittag ein, als ich noch völlig euphorisch war und diesen Tag in vollen Zügen tief in mich hineingesogen hatte !
Und gleich dachte ich: „Ach, wie war doch eigentlich alles so wunderbar heute, das Nikolaus-Laufen, die vielen frohen Menschen, die wunderbar geschmückte Straße, die leuchtenden Gesichter, der glanzvolle Kerzenschein und rundherum die vielen Nikolaus-Lieder, die ständig unablässig gesungen wurden!“ Alles wirkte immer noch sehr intensiv nach bei mir und ich genoss mit einem Mal in vollen Zügen die gemütliche warme Küche in der wir jetzt saßen; die Mutter war da, der Vater kam auch bald und meine Schwester war ja doch die beste Schwester der Welt !
Schon kam der Vater nach Hause und setzte sich sogleich an unseren Tisch. Es dauerte nicht lange und wir hatten ein Lied angestimmt, es war das schönste Nikolauslied, das ich überhaupt in meinem Leben gesungen hatte. Und wir sangen gemeinsam so kräftig aus vollem Halse, dass es bestimmt in unserer ganzen Straße bis zu jedem Nachbarhaus
zu hören war !!!
„Lasst uns froh und munter sein
und uns recht von Herzen freu’n !
Lustig, lustig, trallerallera,
bald ist Nikolausabend da,
bald ist Nikolausabend da !
Dann stell ich den Teller auf,
Niklaus legt gewiss was drauf !
Lustig, lustig, …
Wenn ich schlaf, dann träume ich,
jetzt bringt Niklaus was für mich.
Lustig, lustig, …
Wenn ich aufgestanden bin,
lauf ich schnell zum Teller hin.
Lustig, lustig, …
Niklaus ist ein guter Mann,
dem man nicht genug danken kann.
Lustig, lustig, trallerallera,
bald ist Nikolausabend da,
bald ist Nikolausabend da !
Wolfgang Seekamp
kloppt an alle Dören an,
lütte Kinner bringt he wat,
grote Kinner steckt he in den Sack.
Halli, halli, hallo, nu geiht’t na Bremen to !“
(Hinweis: Sunnerkluus ist die plattdeutsche Form von Nikolaus)
Ja diesen Nikolausspruch musste man natürlich am 6.Dezember ‚draufhaben’, -spätestens, wenn Nikolauslaufen angesagt war. Mit Einsetzen der Dämmerung zogen wir Kinder damals schon am Nachmittag los, um zu unserer vorweihnachtlich
geschmückten Dorfstraße zu gehen. Jeder war natürlich, wie es der Brauch forderte, mit einem Stock und einem kleinen Beutel bewaffnet und hatte außerdem eine passende rote Nikolausmütze auf dem Kopf. Unsere Dorfstraße war damals der absolute Lebensmittelpunkt in unserem kleinen Ort. Ständig waren wir dort unterwegs, irgendetwas gab’s immer zu tun und wenn es nichts zu tun gab, waren wir ‚trotzdem dort’. Es war und blieb für uns Kinder immer spannend, sobald wir uns in dieser für unser Dorf so wichtigen Straße aufhielten!
Unendlich lang und groß kam sie uns damals vor. Immerhin erstreckte sie sich ca. 1 km von einem Ortsende bis zum
anderen. Entlang der Straße lagen die Geschäfte dicht nebeneinander. Viele Geschäfte waren schon seit einigen Tagen auffallend schön und stimmungsvoll geschmückt und die Advents-Kerzen brannten und flackerten vor jedem Geschäft. Je dunkler es wurde, umso gemütlicher und festlicher erschien alles, natürlich vor allem jetzt, am Nikolaustag. Die ganze Straße hatte sich verwandelt in ein wunderbares und einzigartig leuchtendes Lichtermeer und wenn dann auch noch Schnee lag, hatte für uns Kinder der absolute Winteradvents-Traum begonnen. Etwas Schöneres konnte es im Dezember nicht geben und der Nikolaustag war sowieso der Höhepunkt in der ganzen gesamten Vorweihnachtszeit !
Als wir, meine etwas ältere Schwester und ich, nun wieder an einem Nikolaustag mit dem Laufen anfingen, rannten schon überall aufgeregte Jungen und Mädchen hin und her. Die Ladentüren gingen ständig auf und zu und die überhitzte warme Ladenluft und die eisig kalte Winterluft schlug uns jedes Mal schlagartig entgegen. Es war so, als wenn wir immer eine kleine Ohrfeige auf unsere Wangen erhielten. Dementsprechend stolperten wir auch mit knallig-roten Gesichtern von einem Ladeneingang zum nächsten. Vorbei ging es am Kolonialwarenladen ‚Jung’ und Schlachter ‚Carsten’, dann kam Schreibwaren ‚Frank’ und Bäcker ‚Kempe’, dann nochmal ein Schlachter mit dem Namen ‚Sasse’ und danach kam der ‚Konsum’ und die Drogerie Hornkohl sowie Eisenwaren Wilkens...
Und so ging es weiter und weiter. Es wurde gedrängelt und gedrückt, die Gesichter glühten und die Nikolaussprüche sagten wir zunächst etwas unsicher, aber dann immer mehr und mehr fehlerfrei auf. Jedesmal befühlten wir heimlich unsere Säcke, sie wurden voller und voller und mit unseren Stöcken stampften wir mutig und voller Begeisterung immer noch viel kräftiger auf den Ladenboden als zuvor:
„Ick bün so’n lütten König,
giff mi nich to wenig,
loot mi nich to lange stohn,
denn ick mutt noch wieter gohn !
Halli, halli, hallo,
nu geiht’t na Bremen to !“
’Immer hinein in die Säcke’ rief jemand und irgendwann packte uns endgültig das Jagdfieber: Auf die Kekse vom Bäcker kam die Wurstscheibe vom Schlachter. Kurz darauf folgten zwei weiße süße Zuckersternchen begleitet von mehreren Hasel- nüssen. Und dann, dann kam ein ziemlich großer Schokoladenmann hineingeflogen und war für kurze Zeit der große Star im Beutel. Aber kaum dass er sich einen angemessenen Platz aussuchen konnte, prasselten schon 3 dicke Walnüsse hin- terher und zwar direkt und zielgenau auf das stolze schöne Haupt des prächtigen Schokomannes. Und ehe der sich versah, wurde er postwendend weiter nach unten ‚durchgereicht’, denn kurz danach platschte eine warm und frisch duftende Scheibe Gekochte von Schlachter ‚Sasse’ auf die gerade gemütlich eingerichtete Versammlung, und zwar direkt oben hinauf. Das große fleischige Prachtstück bekam aber ebenfalls gleich wieder Besuch: Ein nagelneuer Bleistift von Schreibwaren ‚Frank’ spießte seine messerscharfspitze Vorderseite genau mittig in die ungeschützte Flanke der Fleischscheibe tief und tiefer hinein. Außerdem prasselten ständig, passend zur Adventszeit, diverse Spekulatius-Kekse und Marzipan-Kügelchen in den Beutel hinunter, verfolgt wiederum von granitharten Lebkuchenstückchen; ...und so ging es weiter und weiter. Die ganze lange Straße wurde von den Kindern und von mir im wahrsten Sinne des Wortes akribisch ‚abgearbeitet’ und es ging einmal die ganze lange Straße hoch und dann wieder komplett hinunter, wobei natürlich kein Laden ausgelassen werden durfte.
Ja, so ging es die ganze Zeit, doch allmählich neigte sich dieses ‚Sunnerkluus’-Laufen dem Ende entgegen. Ich begab mich nun langsam auf den Heimweg. Meine Schwester, mit der ich lange gemeinsam gegangen war, hatte ich allerdings
inzwischen aus den Augen verloren, sie war wohl schon längst wieder zu Hause und vermutlich nicht so versessen wie ich gewesen, einen bis zum Rand prall gefüllten Nikolaus-Sack mit nach Hause zu bringen !
Am Ende jedoch, kurz vor der Abzweigung in unsere kleine Wohnstraße, kam ich noch am Obst- und Gemüsegeschäft Henry Tietjen vorbei und trotz der langsam doch etwas unangenehm werdenden Kälte nahm ich mir diesen kleinen Laden
sozusagen als finalen krönenden Abschluss vor. Schließlich war es ja auch so, dass meine Eltern dort regelmäßig einkauften und „Henry“, der Ladenbesitzer, mir daher bestimmt ‚garantiert’ noch zwei oder drei kleine süße Mandarinen in den Beutel hineintun würde !
Aber plötzlich stockte ich: Mitten vor dem Eingang hatte sich ein großer verkleideter Weihnachts- bzw. Nikolausmann
aufgebaut. Er sah mich sehr streng von oben bis unten an und bevor ich mich versah, machte es „plumps“ und noch einmal „plumps“ und irgendwelche Dinge fielen in meinen Beutel hinein, sehen konnte man bei der längst eingetretenen Dunkelheit ohnenhin nicht mehr viel. „Na gut, schon wieder einige schöne Beutestücke mehr“, dachte ich und zu Hause würde ich sowieso alles sehr genussvoll und genauestens betrachten. Mit den zusätzlichen zwei Mandarinen im Beutel flitzte ich nun schnell und sehr glücklich nach Hause, um meine mühsam mit Nikolaus- und Weihnachtsliedern gesammelten Werke endlich in der warmen Küche in Augenschein zu nehmen. Ha, dachte ich triumphierend, was wohl meine Schwester sagen würde, ob sie auch so ähnlich gewaltige Erfolge vermelden konnte wie ich ?
Zu Hause in der Küche trafen wir uns wieder, meine Schwester war inzwischen schon gemütlich am Kauen, ein nettes kleines Häufchen mit den verschiedensten Köstlichkeiten lag vor ihr. Ganz schön, was meine Schwester da gesammelt hatte, dachte ich, aber warte mal ab, nun,...nun würde ich endlich kommen !....Sorgfältig und behutsam drehte ich meinen Beutel um, nachdem ich vorher eine verhältnismäßig große Tischfläche ausgesucht und freigemacht hatte. Und dann breitete sich der ganze bunte zusammengewürfelte, zunächst etwas undefinierbar aussehende Inhalt vor mir aus und ich konnte nun alles genauestens in Augenschein nehmen. Logisch, dass so einiges inzwischen zerbrochen war; ja, das hatte ich wohl einkalkuliert, aber, so dachte ich gleich am Anfang mit leichtem Bedauern, von den vielen wunderbaren Spekulatius-Stücken hätten ja wirklich noch ein bisschen mehr schöne Bissen intakt bleiben können. Stattdessen sah ich nur eine nicht enden wollende dicke Krümelschicht vor mir auf dem Tisch liegen. Leider, leider waren auch einige andere der vielen leckeren Stücke ebenfalls beschädigt, das musste ich inzwischen wohl zugeben, die Enttäuschung wollte und wollte kein Ende nehmen. Na gut, tröstete ich mich, es blieben ja trotzdem noch einige Leckereien übrig und bald steckte ich dann auch ein erstes kleines noch heil gebliebenes Spekulatius-Stück in den Mund ! Schnell folgte das kleine Zimtstück vom Bäcker, darauf war ich sowieso scharf gewesen, und anschließend begann ich sofort mit vollem Mund eine Schokoladenkugel vom Kolonialwarenladen Jung aus dem Silberpapier herauszuwickeln.
Bevor ich aber soweit war, hielt ich plötzlich inne mit dem Kauen, irgendwie wollte sich der gewohnte totale aus früheren Jahren bekannte Adventsgenuss partout nicht bei mir einstellen. So sehr ich auch meine Zunge und die übrigen Geschmacksorgane angestrengt einsetzte, fühlte ich, das irgendetwas nicht stimmte. Was war das, was war da los, was war mit dem Spekulatius-Keks und mit dem leckeren Zimt-Stück ? Irgendetwas war doch nicht in Ordnung, denn alles kam mir ein bisschen komisch vor. Und es kam mir nicht nur komisch vor, es schmeckte auch abscheulich! Ja wirklich abscheulich, denn es schmeckte alles nach … Seife! Tatsächlich, ich konnte es fast nicht glauben, meine ganzen so mühsam ersammelten Köstlichkeiten schmeckten unverwechselbar nach Seife! ....Und schnell stand für mich auch hundertprozentig fest, dieser garstige Seifengeschmack, den wollte und möchte man bei den vielen großen und kleinen Süßigkeiten und Keksen doch ganz bestimmt nicht auf der Zunge haben,…ODER ?
„Wusstest du denn nicht, dass im Weihnachtsmannkostüm eine ‚Tante’ steckte und dass diese 'Tante' hier in der Nähe in
einer kleinen Seitenstraße einen kleinen Laden mit verschiedenen Seifen, Reinigungs- und Waschmitteln vor kurzem eröffnet hatte ?“ sagte meine Schwester und sie lächelte milde und hatte dabei, trotz ihres jungen Alters, eine mit allen Wassern gewaschene ‚Hausfrauen’-Miene aufgesetzt ! Ja, dämmerte es bei mir, sie hatte ja recht, ich hatte das auch wohl am Rande mitbekommen, diese ‚gute Tante’ aus der Nachbarschaft war ja noch vor kurzem bei uns zu Hause an der Haustür gewesen, SIE hatte es also getan ! Und SIE hatte doch wirklich eine Auswahl ihrer, in Anführungsstrichen, „verlockend“ duftenden Seifenproben in meinen Beutel getan! Ich kochte vor Wut, was hatten Süßigkeiten und Kekse und Schokomänner überhaupt mit Seifenproben zu tun ? So etwas müsste man doch verbieten !
Doch, wie es so häufig ist, mein Zorn verrauchte irgendwann wieder, zumal meine Schwester mich besänftigte und gleich darauf meinte, dass wohl genug für alle da sei. Und schon zeigte sie gleich mit einladender Geste auf ihren eigenen Teller, auf dem sich wahrlich noch in genügendem Maße die allerschönsten Süßigkeiten ausbreiteten. Und dann kam auch irgendwann unsere Mutter in die Küche und freute sich sogleich, dass wir so einträchtig zusammen saßen. Eine kleine Adventskerze brannte inzwischen ebenfalls auf dem Tisch und meine Schwester und ich hatten die Köpfe zusammengesteckt. Wir schmausten beide vor uns hin und steckten uns nach und nach die wunderbarsten Dinge in den Mund. „Nun esst nicht zuviel“, rief unsere Mutter, „denkt daran, ihr habt ja schließlich auch noch den Nikolaus-Teller und außerdem essen wir ja bald Abendbrot !“ Ja, das war schön, dass sie mich an meinen Nikolaus-Teller erinnerte, es machte mir die ‚Niederlage’ von vorhin doch noch ein wenig erträglicher. Und meine Miene hellte sich nun endgültig auf, in meinem Gesicht stellte sich wieder der 'Nikolaus-Glanz' von heute nachmittag ein, als ich noch völlig euphorisch war und diesen Tag in vollen Zügen tief in mich hineingesogen hatte !
Und gleich dachte ich: „Ach, wie war doch eigentlich alles so wunderbar heute, das Nikolaus-Laufen, die vielen frohen Menschen, die wunderbar geschmückte Straße, die leuchtenden Gesichter, der glanzvolle Kerzenschein und rundherum die vielen Nikolaus-Lieder, die ständig unablässig gesungen wurden!“ Alles wirkte immer noch sehr intensiv nach bei mir und ich genoss mit einem Mal in vollen Zügen die gemütliche warme Küche in der wir jetzt saßen; die Mutter war da, der Vater kam auch bald und meine Schwester war ja doch die beste Schwester der Welt !
Schon kam der Vater nach Hause und setzte sich sogleich an unseren Tisch. Es dauerte nicht lange und wir hatten ein Lied angestimmt, es war das schönste Nikolauslied, das ich überhaupt in meinem Leben gesungen hatte. Und wir sangen gemeinsam so kräftig aus vollem Halse, dass es bestimmt in unserer ganzen Straße bis zu jedem Nachbarhaus
zu hören war !!!
„Lasst uns froh und munter sein
und uns recht von Herzen freu’n !
Lustig, lustig, trallerallera,
bald ist Nikolausabend da,
bald ist Nikolausabend da !
Dann stell ich den Teller auf,
Niklaus legt gewiss was drauf !
Lustig, lustig, …
Wenn ich schlaf, dann träume ich,
jetzt bringt Niklaus was für mich.
Lustig, lustig, …
Wenn ich aufgestanden bin,
lauf ich schnell zum Teller hin.
Lustig, lustig, …
Niklaus ist ein guter Mann,
dem man nicht genug danken kann.
Lustig, lustig, trallerallera,
bald ist Nikolausabend da,
bald ist Nikolausabend da !
Wolfgang Seekamp
Ende